Sonntag, 6. September 2009

Rudolf Steiner und die Anthroposophie

Rezension von Abenteuer Anthroposophie: Rudolf Steiner und seine Wirkung. Ein Film von Rüdiger Sünner

Wie Zeitzeugen schildern, war Rudolf Steiner (1861-1925) eine Persönlichkeit von großer und eindringlicher Ausstrahlung. Seine Wirkung hält bis in die Gegenwart hinein an - nicht zuletzt deswegen, weil die Menschheitsfragen, auf die er eine Antwort gesucht hat, bis zum heutigen Tage fortbestehen. Unsere schnellebige Zeit bringt jedoch eine flackernde Aufmerksamkeit mit sich, die von solch komplexen und vielschichtigen Phänomenen nur noch aus dem Zusammenhang heraus gerissene Teilchen wahrzunehmen in der Lage ist. So hat man mal etwas gehört von Waldorfschulen, biologisch-dynamischer Landwirtschaft oder anthroposophischer Medizin, aber sich selten weitergehend darauf eingelassen.
Wie ist das Leben eines Menschen verlaufen, den man in einem Zusammenhang sehen muß mit den großen Universalgelehrten des 18. und 19. Jahrhunderts, mit Johann Wolfgang von Goethe, Carl Gustav Carus oder Alexander von Humboldt? Wie kann einer dahin kommen, so grundlegend über Naturkräfte und Menschenwesen nachzusinnen, daß er heute so weit auseinander liegenden Sphären wie Pädagogik und Landwirtschaft, Medizin und Spiritualität, Architektur und Wirtschaftsleben, Kunst und Naturwissen-schaft wegweisende Impulse geben kann? Was meint die von ihm begründete Anthroposophie und wo steht sie heute im Weltgeschehen?
Der hier behandelte Film von Rüdiger Sünner geht die beinahe unmögliche Aufgabe an, wichtige Lebensstationen Steiners in Niederösterreich, Wien und Weimar, schließlich in Dornach in der Schweiz und auf seinen vielen Vortragsreisen zusammenhängend zu verdeutlichen. Wir lernen Waldorfschu-len in Deutschland und Afrika kennen, sowie die anthroposophisch orientierte Sekem-Farm in Ägypten. Es kommen Menschen zu Wort, die seine Auffassungen studiert, geprüft und sich zu eigen gemacht haben und solche, die nach ebenfalls oft jahrzehntelanger Auseinandersetzung damit Kritikpunkte benennen. So ist ein ausführliches Porträt eines der vielschichtigsten Denker und Lehrer der Moderne entstanden, dessen Hinterlassenschaft enorm umfangreich ist und die auch heute noch polarisieren kann.
Den 13 Kapiteln des Dokumentarfilms ist außerdem ein Porträt des Filmautors Rüdiger Sünner (Jg. 1953) beigegeben, dem wir so wichtige Filme wie „Schwarze Sonne“, „Paul Klee in Ägypten“ oder „Geheimes Deutschland“ verdanken.
Die Kapitel des Films gehen auf die Jugendzeit Rudolf Steiners in Niederösterreich ein, zeigen die Landschaften seiner Kindheit und die Kräfte, welche den sensiblen, schon früh durch übersinnliche Erlebnisse geprägten Jungen beeinflußt haben. Unter der Ablehnung durch den Vater wird sein Refugium die Natur, mit der er in heimlichen Dialogen zu verkehren lernt und deren Geheimnisse er zu ergründen sucht. Das wird in schönen, die Imagination anregenden („sprechenden“!) Elementar-Bildern gezeigt, deren Signaturen den ganzen Film durchziehen. Wir werden wieder angeregt, in einer Blütenform oder in einem Stück Baumrinde mehr zu sehen, als den mechanischen Ausdruck von ein paar Naturgesetzen und uns auch seelisch berühren zu lassen von der Schönheit und Magie der Elemente.
Der ländliche Reichtum an Sagen und Mythen wird mit inspirierenden Zitaten und Bildern belegt. Die Gesetze der Ähnlichkeit, das Bestreben Steiners, „seelisch in der Ausbildung innerer Formen (zu) leben“ wird deutlich. Der junge Steiner betritt so schon sehr früh neben dem Naturstudium auch den „Seelenschauplatz“ der geistiger Offenbarungen, die ihm die Welt von anderen Seiten her verständlich machen, als es das im 19. Jahrhundert erstarkte, bereinigt materialistische Weltbild der neuen Naturwissenschaften erlauben will. Auch heute noch wird leicht als „Esoterik“ oder Okkultismus abgetan, worin Rudolf Steiner schon früh einen ganz eigenen Erfahrungsraum sich erschließt. Diese Erfahrungen gestatten ihm, die Denkorgane ins Innere der Dinge zu verlängern, also nicht an den oberflächlichen Erscheinungen und dem bloß funktionalen Gebrauch hängen zu bleiben. Für all diese subtilen Erlebnisebenen findet der Film erstaunliche und hilfreiche Bilder, auch wo sie zuweilen die Sprache des Dokumentarfilms übersteigen, ganz dem erweiterten Menschenbild ensprechend, das hier Gegenstand und Thema ist.
Das Studium in Wien, die geistlose akademische Zitaten-Reproduktion, die Enge des erfahrungsbereinigten Bücherwissens können Steiner schon bald nicht mehr zufriedenstellen. In scharfem Kontrast eröffnen sich in seiner heranreifenden Erfahrungswissenschaft Einsichten wie z.B. die, daß das Licht „als wirkliche Wesenheit in der Sinneswelt (erscheint), die aber selbst außersinnlich ist.“ Tausende von Leichen wurden im 19. Jh. seziert und keine Seele gefunden! Steiner sucht nach Begriffen der Wirklichkeit, die das seelische Erleben mit umfassen, so wie es ihm seit seiner Kindheit zugänglich ist. Die bildende Kunst, die Museen, dort die Malerei von Arnold Böcklin scheint seine Kindheitserlebnisse schon zu kennen. Sodann das Erlebnis des Ich, die Wirklichkeit und Geistigkeit des Ich in den herausragenden Werken von Rembrandt.
Er wendet sich gegen jeden Form des Zeitgeist-Nationalismus schon in seiner Wiener Lebensphase. Der deutsche kosmopolitische Geist wie bei Goethe ist ihm sehr verwandt, er geht auf Distanz auch zum Anti-Semitismus der Zeit, ebenso aber auch zum Zionismus und er sympathisiert mit der vollständigen Assimilierung der Juden – eine Auffassung, die gerade im Zeitraum der Moderne auch von vielen jüdischen Intellektuellen und Künstlern geteilt wird. Mit großem Respekt vor den gesellschaftlich aktiven Frauen seiner Zeit besucht er die führenden Salons in Wien und erhält dort zahlreiche Anregungen.
Was ihn aber generell stört, sind die starken Gegensätze und die vielen Kontroversen auch der intellektuellen Welt dieser Zeit, die seiner Auffassung nach zu einer Harmonie finden müssen. Dieses Harmoniebedürfnis nähert ihn schon früh dem religiösen Kulturfeld an und einer Form von Kunst, die das Wagnis und die vielen herausragenden Neuerungen der Moderne eher zu scheuen scheint. Bis in die heutige Zeit ist, was Steiner geschaffen hat, von den Chiffren und Kontroversen seiner frühen Jahre geprägt sowohl in den Stärken, wie in den Schwächen. Zahlreiche Interviewpartner - auch einige kritische - kommen in diesem umfassend angelegten Film von Rüdiger Sünner zu Wort, so z.B. Götz Werner, Dr. Schnell, Otto Schily, Heiner Ulrich, Helmut Zander, Ibrahim Abouleish und auch einige engagierte Frauen, die insbesondere im pädagogischen Bereich tätig sind.
Ab 1890 arbeitet Rudolf Steiner im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar an der Gesamtausgabe der Werke Goethes mit Schwerpunkt auf dessen naturwissenschaftlichen Schriften. Er betrachtet diese zugleich als Entwürfe einer spirituellen Naturphilosophie, die in ihm selber sich fortwährend weiter entwickelt. Pflanzenwachstum, Prozeßerleben, das Naturgeschehen als eine von Ideen geleitete Metamorphose sind seine zentralen Gedanken. Schöne Überblendungen Goethescher Zeichnungen und Notate mit Fresienbildern suchen das nahe zu bringen. Das Übersinnliche ist bestimmend, über die Sinnenwelt hinaus geht das Denken. Ein Abschnitt ist Weimar und Goethe gewidmet, weitere der Theosophie, dem Einfluß des Denkens von Madame Helena Petrowna Blavatsky (1831-1891), der Begründerin der modernen Theosophie und der Beschäftigung mit der buddhistischen Kosmologie.
Hier setzen dann die haarigen und sehr umstrittenen Auffassungen Steiners von den fünf Grundrassen an und schon lächerlich klischeehaft zu nennende Vorstellungswelten entfalten sich, betr. etwa die Indianer Nordamerikas und das angeblich schon in ihnen Angelegte ihres Untergangs, die Klischees über das Triebleben afrikanischer Neger etc., über die man eigentlich keine Worte mehr verlieren muß. Der Autor zeigt die Widersprüchlichkeit Steinerschen Denkens auf und läßt viele Fachleute in Statements die jeweiligen Fragen von verschiedenen Seiten kommentieren. Historische Kontextualisierung als ein möglicher Ausweg aus der Reaktualisierung der Kontroversen führt dabei schnell in die kulturellen Kreise, aus denen sich auch die Wegbereiter des Nationalsozialismus genährt haben. Rüdiger Sinner weiß, wovon er spricht, hat er sich doch auch damit schon befaßt.
Das Thema Reinkarnation und Karma wird mit Bespielen aus Ägypten und den prähistorischen Megalith-Kulturen angesprochen. Das wissenschaftliche Verständnis der Nahtod- und Sterbeerlebnisse muß transformiert und erweitert werden – was ja seit 20 Jahren auch geschieht. Was auffällt ist, daß hier die asiatischen und buddhistischen Quellen Steinerschen Denkens kaum Erwähnung finden. Jeder weiß heute, daß die buddhistische Überlieferung wie Praxis enorm kundig zu diesem Thema ist und Steiner wußte es ebenfalls, auch wenn die zeitgenössische Theosophie dafür nicht gerade eine authentische Quelle gewesen ist.
Das Goetheanum in Dornach wird in seiner Entwicklung vom Holzbau zur Betonskulptur gezeigt, Zeugen und Forscher kommen zu Wort. Erläutert wird die dort bis zum heutigen Tage weiter entwickelte und praktizierte spirituelle Naturforschung und vieles mehr, was in diesem bedeutenden Archiv-, Forschungs- und Kulturzentrum lebendig ist.
Das Wirtschaftsprinzip Brüderlichkeit, die Ideale der französischen Revolution aufgreifend und mit dem Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organismus sinnvolll verschmolzen; die aktuelle Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen, die bis heute bedeutenden Beiträge der anthroposophische Medizin werden anschaulich gemacht und die Denkweise, Einfluß zu nehmen auf das Problem, das die Krankheit auslöst, bei der Entgleisung in die Einseitigkeit ansetzend. Der reformpädagogische Sonder-weg Steiners in der Waldorfpädagogik als Ausdruck der Ehrfurcht vor dem sich selbst entwickelnden Geist werden ein Kapitel lang in den Mittelpunkt gerückt und nicht zuletzt ist immer wieder ein der anthroposophischen Szene zuweilen abgesprochener Humor durchscheinend: „Wie wunderbar: Stunden mit dem blöden Wattwurm!“ (bei Wanderungen mit Kindern im Nordsee-Watt). Schließlich der markante anthroposophische Projekt-Ansatz in Afrika und zum Abschluß die Sekem-Farm in Ägypten werden vorgestellt: „Nichts mehr als die Kunst kann wirklich das Bewußtsein entwickeln.“
Wegen der oft spürbaren inhaltlichen Nähe zu spirituellen Positionen des Buddhismus und wegen dessen aktueller Präsenz im öffentlichen Bewußtsein, sei noch dies angemerkt:
Drei Kräfte haben eine authentische und adäquate Verarbeitung der buddhistischen Weisheitsüberlieferung bei Rudolf Steiner begrenzt bzw. verhindert:
1. seine Rassentheorie, insbesondere zu den asiatischen Völkern;
2. seine starke, christlich geprägte Religiosität; und
3. die Auseinandersetzung mit Madame Blavatsky, der organisierten
Theosophie, deren Generalsekretär Steiner gewesen ist und ihren Lehren und seine folgende energische Abgrenzung von der Theosophie, welche in dieser Zeit auch eine wichtige, für den Buddhismus wirksame Kraft gewesen ist.
Steiner hat gleichwohl zu einer freien Auseinandersetzung mit den Weisheitsüberlieferungen beigetragen, frei von kirchenchristlichen Bindungen. Madame Blavatsky hat in großem Umfang eine freie Auseinandersetzung mit der buddhistischen Weisheitsüberlieferung in ihrer Zeit angeregt und befördert, besonders auch bei Künstlern wie Max Beckmann, Wassilij Kandinsky u.v.a.
Heute ist die Lage allerdings nun eine völlig andere auch deswegen, weil die buddhistischen Lehrer der verschiedenen Schulrichtungen alle im Westen präsent sind und gut für sich selber sprechen können und weil die weltweite massenmediale Entwicklung den individuellen Zugang zu Informationen explosionsartig erweitert und auch befreit hat.
Rüdiger Sünner hat mit seinem einfühlsamen Porträt einer historischen Persönlichkeit auf herausragende Weise unser Verständnis dieses vielschichtigen und widersprüchlichen Menschen Rudolf Steiner befördert. Er hat dies in einer anschaulichen und lebendigen Weise verwirklicht, so daß wir die Aktualität der meisten Fragen erkennen und den großen Beitrag der anthroposophischen Bewegung zur Lösung der Menschheitsfragen würdigen können.

Thilo Götze Regenbogen

Abenteuer Anthroposophie: Rudolf Steiner und seine Wirkung. Ein Film von Rüdiger Sünner, 110 Min., Farbe, Buch/Regie/Kamera: Rüdiger Sünner, Sprecher: Hans-Peter Bögel, Rüdiger Sünner; absolut Medien Dokumente 938, Atalante Film 2008, ISBN 978-3-89848-938-6, 17.90 €. Erhältlich z.B. im Internetbookshop von waldorfschule.de. Weitere Internetquellen: http://www.ruedigersuenner.de, absolutmedien.de, waldorfbuch.de, rudolf-steiner.de.
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