Stuttgart 21 und die Kulturfeldtheorie
Im Dezember 2010 erscheint der dritte Band der Forschungsergebnisse des Kunsthistorikers, Künstlers und ökologischen Aktivisten der 70er und 80er Jahre, Thilo Götze Regenbogen (Jg. 1949) im diagonal-Verlag Marburg: Feldbefreier in Kunst, Weisheit und Wissenschaft Das Buch enthält auch die ersten Ansätze einer neuen Systemtheorie der Kulturfelder in Gesellschaften der Moderne, die an 14 Beispielen näher ausgeführt wird, wobei diese sich dem Schwerpunkt des Buches entsprechend auf Kunst, Design, asiatische Länderkulturen, Religion und Gesellschaft konzentrieren.
Das dabei entwickelte Instrumentarium gestattet es aber auch, aktuelle Auseinandersetzungen wie den um „Stuttgart 21“ als einen typischen Kulturfeldkonflikt zu erkennen. Dabei wird deutlich, daß es sich in vielen Punkten um eine Neuauflage bzw. Weiterführung von Konfliktlinien und Interessensunterschieden aus den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts handelt, ähnlich denen um die Erweiterung des Frankfurter Flughafens („Startbahn West“) zu Beginn der 80er Jahre. Technikfolgenabschätzung, Umweltverträglichkeitsprüfung, Planfeststellungsverfahren, Bürgerbeteiligung und die Frage der Mitbestimmung der von den Zukunftsfolgen betroffenen Bürger stehen wieder im Raum, verhärtete Fronten führen zur Eskalation von Gewaltanwendung auf beiden Seiten der Bauzäune, auch wenn diese in Stuttgart bisher nur von Seiten der Betreiber des Bahnhofsneubaus sichtbar geworden ist.
Bei den Auseinandersetzungen um das „Zigeunerwäldchen“ bei Hofheim am Taunus (Januar 1980) und die „Startbahn West“ des Frankfurter Flughafens (1981-1982) ging es auch jeweils um z.T. bis auf die 60er Jahre zurückreichende Planungen, die 15 Jahre später mit Brachialgewalt gegen Bürgerprotest durchgesetzt wurden. In Hessen entstand auf der Basis der Bürgerinitiativenstruktur die „Sonstige Politische Vereinigung (SPV)“ Die Grünen, heute Bundestagspartei.
In Stuttgart und Berlin ist nun eine jüngere Generation engagiert, denen der Kampf um das Kernkraftwerk im badischen Wyhl zu Anfang der 70er Jahre nur noch aus Erzählungen bekannt sein wird. Damals und dort entstand die ökologisch motivierte Bürgerinitiativenbewegung. Wenn man heute im Bücherbereich bei Amazon „Wyhl“ eingibt, so erhält man 275 Treffer, die deutlich machen, wie viel zu diesem Thema noch nachlesbar und auch weiterhin aktuell ist. Das "EygenArt- oder Unkrautkulturmanifest“ von Thilo Götze Regenbogen (geschrieben 1978-1981/85) stellt die kulturellen Auseinandersetzungen dieser Zeit in den größeren Zusammenhang einer Moderne-Kritik, die sich auf ganzheitliche Zusammenhänge des menschlichen Lebens auf diesem Planeten beruft und dabei auch spirituelle, medizinische, soziale, ökologische und künstlerische Aspekte und Wirkungsfelder berücksichtigt. Ebenso das Ende 1979 entstandene „Zigeunerwäldchen-Manifest“ (1980) des Autors, Künstlers und ökologischen Aktivisten dieser Zeit.
Bei „Stuttgart 21“ geht es im Kern um dieselben Fragen, dies aber in stark erweiterter ökonomischer Dimension (4,5 bis etwa 11 Mrd. Euro) und vor einem Allgemeinbewußtsein, das sich durch Finanzkrise und ökologische Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte aufgerüttelt nichts mehr vormachen lassen will. Abstrakte Allgemeinbegriffe wie Zukunft, Fortschritt oder Modernisierung werden auf den Boden der tatsächlichen Planungsfolgen dieses Großprojekts geholt und einer neuen gesellschaftlichen Auseinandersetzung zugeführt, die sich nicht mehr hinter den Konferenztüren ökonomischer und politischer Koalitionäre einer vermeintlich besseren Zukunft verschanzen kann. Auf unklaren oder gar geheimen Zukunftsfolgenabschätzungen beruhende Planungen müssen nun offengelegt werden. Die Bürger Stuttgarts und Baden-Württembergs, des ganzen Landes und des deutschsprechenden Europa, übers Internet vielleicht auch viele Beobachter aus der ganzen industrialisierten Welt, werden sich damit befassen können und wollen, denn nun werden die überregionalen Parallelen dieses Projekts sichtbar werden.
Zunächst waren in Stuttgart die institutionalisierte Politik (repräsentattive Demokratie) und das wirtschaftlich-ökonomische Kulturfeld führend und schließlich entscheidend beteiligt. Ökologische, soziale und wirtschaftliche Zukunftsfolgenabschätzung erfolgten wo überhaupt auf unzureichender und inzwischen oftmals überholter Datengrundlage. Ein solchermaßen beteiligtes wissenschaftliches Expertentum krankt allzu häufig an der hohen Spezialisierung, die garnicht in der Lage sein kann, die übergreifenden Zusammenhänge deutlich zu machen. Genau diese Spezialisierung macht es ja auch so benutzbar für verschiedene Interessen. Der Geist, wenn er denn hier überhaupt noch weht, ist vom Grundsatz her dienstbar. Ohne diese Dienstbarkeit bekäme das Kulturfeld Wissenschaft niemals eine ökonomische Basis, wäre nicht lebensfähig.
Wenn nun die Öffentlichkeit der Medien (öffentliche, private und alternative wie z.B. solche im Internet) die Auseinandersetzungen aufnimmt, in ihrem Sinne verarbeitet und verbreitet; wenn eine breitere Zahl von wissenschaftlichen Stellungsnahmen zu Detailaspekten in Auftrag gegeben und vermittelt werden kann; wenn die parteipolitischen Interessenlagen in Stadt, Land, Bund und auf EU-Ebene ins „Spiel“ eingreifen (was sie von Anfang an getan haben); wenn schließlich die in vielfältiger Weise in ihren unterschiedlichen und gemeinsamen Interessenlagen betroffenen Bürger aufstehen und nicht mehr hinnehmen wollen, was da vor ihren Augen in die Tat umgesetzt wird, dann haben wir eine sehr stark erweiterte Konfliktlage, in der die genannten vier großen Kulturfelder mit dem der Familien, Paare und Einzelpersonen interagieren. Das Alltagsleben sehr vieler Menschen ist betroffen sowohl durch die Baumaßnahmen am Stuttgarter Hauptbahnhof, wie durch die Präsenz des Konflikts in den Medien, im Berufs- und Privatleben. Es ändert sich die gesamte Atmosphäre eines Ortes, einer Landeshauptstadt, ja des ganzen Landes, das über das Thema nachzudenken beginnt. Es entsteht ein über die institutionalisierte Politik weit hinausreichendes Feld politischer, sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Akteure, in dem über weit mehr verhandelt wird als einen Bahnhofsabriß und den Neubau eines Stücks einer imaginären Transkontinentale, von der überhaupt noch nicht ausgemacht scheint, wer sie denn braucht. Wie in den 70er und 80er Jahren scheint es immer noch um Beschleunigung, quantitatives Wachstum, Zerstörung älterer und nicht selten für die Mehrheit effektiverer und auch wirtschaftlicher Strukturen zu gehen. Von Fortschritt in den Köpfen der Betreiber also weiterhin keine Spur?
18.10.2010 Thilo Götze Regenbogen
Das dabei entwickelte Instrumentarium gestattet es aber auch, aktuelle Auseinandersetzungen wie den um „Stuttgart 21“ als einen typischen Kulturfeldkonflikt zu erkennen. Dabei wird deutlich, daß es sich in vielen Punkten um eine Neuauflage bzw. Weiterführung von Konfliktlinien und Interessensunterschieden aus den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts handelt, ähnlich denen um die Erweiterung des Frankfurter Flughafens („Startbahn West“) zu Beginn der 80er Jahre. Technikfolgenabschätzung, Umweltverträglichkeitsprüfung, Planfeststellungsverfahren, Bürgerbeteiligung und die Frage der Mitbestimmung der von den Zukunftsfolgen betroffenen Bürger stehen wieder im Raum, verhärtete Fronten führen zur Eskalation von Gewaltanwendung auf beiden Seiten der Bauzäune, auch wenn diese in Stuttgart bisher nur von Seiten der Betreiber des Bahnhofsneubaus sichtbar geworden ist.
Bei den Auseinandersetzungen um das „Zigeunerwäldchen“ bei Hofheim am Taunus (Januar 1980) und die „Startbahn West“ des Frankfurter Flughafens (1981-1982) ging es auch jeweils um z.T. bis auf die 60er Jahre zurückreichende Planungen, die 15 Jahre später mit Brachialgewalt gegen Bürgerprotest durchgesetzt wurden. In Hessen entstand auf der Basis der Bürgerinitiativenstruktur die „Sonstige Politische Vereinigung (SPV)“ Die Grünen, heute Bundestagspartei.
In Stuttgart und Berlin ist nun eine jüngere Generation engagiert, denen der Kampf um das Kernkraftwerk im badischen Wyhl zu Anfang der 70er Jahre nur noch aus Erzählungen bekannt sein wird. Damals und dort entstand die ökologisch motivierte Bürgerinitiativenbewegung. Wenn man heute im Bücherbereich bei Amazon „Wyhl“ eingibt, so erhält man 275 Treffer, die deutlich machen, wie viel zu diesem Thema noch nachlesbar und auch weiterhin aktuell ist. Das "EygenArt- oder Unkrautkulturmanifest“ von Thilo Götze Regenbogen (geschrieben 1978-1981/85) stellt die kulturellen Auseinandersetzungen dieser Zeit in den größeren Zusammenhang einer Moderne-Kritik, die sich auf ganzheitliche Zusammenhänge des menschlichen Lebens auf diesem Planeten beruft und dabei auch spirituelle, medizinische, soziale, ökologische und künstlerische Aspekte und Wirkungsfelder berücksichtigt. Ebenso das Ende 1979 entstandene „Zigeunerwäldchen-Manifest“ (1980) des Autors, Künstlers und ökologischen Aktivisten dieser Zeit.
Bei „Stuttgart 21“ geht es im Kern um dieselben Fragen, dies aber in stark erweiterter ökonomischer Dimension (4,5 bis etwa 11 Mrd. Euro) und vor einem Allgemeinbewußtsein, das sich durch Finanzkrise und ökologische Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte aufgerüttelt nichts mehr vormachen lassen will. Abstrakte Allgemeinbegriffe wie Zukunft, Fortschritt oder Modernisierung werden auf den Boden der tatsächlichen Planungsfolgen dieses Großprojekts geholt und einer neuen gesellschaftlichen Auseinandersetzung zugeführt, die sich nicht mehr hinter den Konferenztüren ökonomischer und politischer Koalitionäre einer vermeintlich besseren Zukunft verschanzen kann. Auf unklaren oder gar geheimen Zukunftsfolgenabschätzungen beruhende Planungen müssen nun offengelegt werden. Die Bürger Stuttgarts und Baden-Württembergs, des ganzen Landes und des deutschsprechenden Europa, übers Internet vielleicht auch viele Beobachter aus der ganzen industrialisierten Welt, werden sich damit befassen können und wollen, denn nun werden die überregionalen Parallelen dieses Projekts sichtbar werden.
Zunächst waren in Stuttgart die institutionalisierte Politik (repräsentattive Demokratie) und das wirtschaftlich-ökonomische Kulturfeld führend und schließlich entscheidend beteiligt. Ökologische, soziale und wirtschaftliche Zukunftsfolgenabschätzung erfolgten wo überhaupt auf unzureichender und inzwischen oftmals überholter Datengrundlage. Ein solchermaßen beteiligtes wissenschaftliches Expertentum krankt allzu häufig an der hohen Spezialisierung, die garnicht in der Lage sein kann, die übergreifenden Zusammenhänge deutlich zu machen. Genau diese Spezialisierung macht es ja auch so benutzbar für verschiedene Interessen. Der Geist, wenn er denn hier überhaupt noch weht, ist vom Grundsatz her dienstbar. Ohne diese Dienstbarkeit bekäme das Kulturfeld Wissenschaft niemals eine ökonomische Basis, wäre nicht lebensfähig.
Wenn nun die Öffentlichkeit der Medien (öffentliche, private und alternative wie z.B. solche im Internet) die Auseinandersetzungen aufnimmt, in ihrem Sinne verarbeitet und verbreitet; wenn eine breitere Zahl von wissenschaftlichen Stellungsnahmen zu Detailaspekten in Auftrag gegeben und vermittelt werden kann; wenn die parteipolitischen Interessenlagen in Stadt, Land, Bund und auf EU-Ebene ins „Spiel“ eingreifen (was sie von Anfang an getan haben); wenn schließlich die in vielfältiger Weise in ihren unterschiedlichen und gemeinsamen Interessenlagen betroffenen Bürger aufstehen und nicht mehr hinnehmen wollen, was da vor ihren Augen in die Tat umgesetzt wird, dann haben wir eine sehr stark erweiterte Konfliktlage, in der die genannten vier großen Kulturfelder mit dem der Familien, Paare und Einzelpersonen interagieren. Das Alltagsleben sehr vieler Menschen ist betroffen sowohl durch die Baumaßnahmen am Stuttgarter Hauptbahnhof, wie durch die Präsenz des Konflikts in den Medien, im Berufs- und Privatleben. Es ändert sich die gesamte Atmosphäre eines Ortes, einer Landeshauptstadt, ja des ganzen Landes, das über das Thema nachzudenken beginnt. Es entsteht ein über die institutionalisierte Politik weit hinausreichendes Feld politischer, sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Akteure, in dem über weit mehr verhandelt wird als einen Bahnhofsabriß und den Neubau eines Stücks einer imaginären Transkontinentale, von der überhaupt noch nicht ausgemacht scheint, wer sie denn braucht. Wie in den 70er und 80er Jahren scheint es immer noch um Beschleunigung, quantitatives Wachstum, Zerstörung älterer und nicht selten für die Mehrheit effektiverer und auch wirtschaftlicher Strukturen zu gehen. Von Fortschritt in den Köpfen der Betreiber also weiterhin keine Spur?
18.10.2010 Thilo Götze Regenbogen
tgregenbogen - 18. Okt, 13:31