Zum Tode von Hans-Peter Dürr (1929-2014)

Hans-Peter_DuerrFoto: Peter Fuhrmann 2007.

Neues Denken für eine Welt im Umbruch: Zum Tode von Hans-Peter Dürr (1929-2014)

„Ein Baum, der fällt, macht mehr Lärm, als ein Wald, der wächst. Lasst uns deshalb dem wachsenden Wald lauschen!“
(eine von Hans-Peter Dürr oft zitierte tibetische Weisheit)


Eine der großen Gestalten der Gegenwart ist aus dem Leben gegangen. Hans-Peter Dürr, Quantenphysiker und Philosoph, Brückenbauer zwischen Naturwissenschaften und Spiritualität, Zukunftsdenker und zivilgesellschaftlicher Aktivist, Träger des alternativen Nobelpreises und mit der Wissenschaftler-Vereinigung PUGWASH auch Friedensnobelpreisträger, ist im Alter von 84 Jahren nach langer Krankheit in München gestorben.
Das letzte Vierteljahrhundert seines Lebens war es ihm ein zentrales Anliegen, mit der von ihm gegründeten Initiative „Global Challenges Network“ (GCN) die weltweiten Antworten auf die bedrohlichen Herausforderungen der Gegenwart in einem globalen Netzwerk zu verbinden.

Vordenker der Friedensbewegung
Sein Einfluss auf Kultur und Politik in München, Deutschland und der ganzen Welt war immens. Als Vordenker der Friedensbewegung konnte der Atomphysiker mit wissenschaftlichen Argumenten der Aufrüstung entgegentreten und die Gefahren der Nukleartechnik aufzeigen. Als Netzwerker verband er weltweit Wissenschaftler gegen die US-amerikanische Rüstungsinitiative ‚Star Wars‘ und ihren im Weltraum geplanten Abwehrschild und trug so dazu bei, die Rüstungsspirale zu bremsen. Als wortgewandter Kritiker von gefährlichen technologischen Megaprojekten prägte er das Verständnis von Nachhaltigkeit und Zukunftsforschung. Als Aktivist und Mitgestalter bei ‚Greenpeace‘, zahlreichen internationalen Vereinigungen wie dem ‚Worldwatch Institute‘ oder dem ‚World Future Council‘ gestaltete er den globalen zivilgesellschaftlichen Kampf für eine ‚bessere Welt‘. Als Brückenbauer zwischen Naturwissenschaft und ganzheitlichen Weltbildern arbeitete er mit an der Entstehung eines neuen ganzheitlich-systemischen Weltbildes. Als engagierter Wissenschaftler appellierte er immer wieder an seine Kollegen, Verantwortung zu übernehmen und ihr wachsendes Wissen für die Zukunftsfähigkeit einzusetzen, anstatt die Zerstörung der Welt zu beschleunigen.

Passionierter Grenzgänger
Hans-Peter Dürr bot als Denker, Wissenschaftler, Aktivist und selber Suchender vielen Menschen eine Orientierung und wurde mit zunehmendem Alter immer mehr zu einer moralischen Instanz in einer zunehmend krisengeschüttelten Welt.
Auch wenn er die Grenzen der Physik als akademische Disziplin immer wieder überschritt, sprach der Quantenphysiker und Alternative Nobelpreisträger Hans-Peter Dürr immer auch als Naturwissenschaftler.
Sein Antrieb, Physiker zu werden und insbesondere zu den Atomen, den Atomkernen und Elementarteilchen hinabzusteigen, entsprang nach Krieg und Zusammenbruch dem Wunsch, „zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält“. Dass Hans-Peter Dürr auf dem Wege hinunter „ins Innerste der Welt“ nicht nur „Philosophen“ wie dem Nobelpreisträger Werner Heisenberg begegnete, sondern mit Edward Teller auch Kernphysikern, die Atombomben bauten, war nicht seine Absicht. Es war aber Grund und Anlass für ihn, ein „passionierter Grenzgänger“ zu werden. Ihm wurde die Ambivalenz der Forschung deutlich: dass tiefe Einsichten auch unmittelbar zu Kenntnissen führen, die unsere Lebenswelt einschneidend verändern, ja sie zerstören können.
Die Erkenntnisse aus der modernen Quantenphysik, die in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts das naturwissenschaftliche Weltbild revolutioniert haben, jedoch bislang spurlos in unserem Alltagsverständnis von Natur geblieben sind, wiesen für ihn den Weg in die Zukunftsfähigkeit. Dieses „Neue Denken“ mit den darin enthaltenen konstruktiven Gestaltungsmöglichkeiten zu vermitteln – das war sein Anliegen.

Welt als Beziehung
Dies „neue Denken“ bedeutet die Überwindung des materialistischen Weltbilds durch die Erkenntnis der Quantenphysik, dass Materie nicht aus Materie aufgebaut ist. Bei der Suche nach dem „Kern“ der Materie entdecken wir eine Welt, die in der Deutung von Hans-Peter Dürr mehr dem Geistigen ähnelt: eine Welt voller Möglichkeiten – ganzheitlich, offen, lebendig. Auch wir Menschen sind, so Dürr, „nicht Teile einer Wirklichkeit, sondern beteiligt an einer Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit wird in jedem Augenblick neu geschaffen, und so bereichert jeder kreative Beitrag von uns die Wirklichkeit unserer Zukunft.“ Hans-Peter Dürr wurde in seinen zahllosen Vorträgen und Schriften nicht müde zu erklären, dass in der Natur alles mit allem auf höchst subtile Weise zusammenhängt und es daher gilt, aus dieser universellen Verbundenheit heraus zu denken und zu handeln. „Wir denken immer noch in den Strukturen des 19. Jahrhunderts und kleben an der Illusion, dass es mit List und Tücke gelingen wird, die Welt in den Griff zu bekommen. Wir haben lange genug an den Ästen gesägt, auf denen wir sitzen. Jetzt wird es Zeit, unseren Platz im Ganzen der Natur neu zu definieren und uns endlich als Teil eines Gesamtprozesses zu verstehen und damit die Chance zu ergreifen, dass jeder und jede von uns einen Teil dazu beitragen kann, das Lebendige lebendiger werden zu lassen.“
Hans-Peter Dürr begeisterte und ermutigte. Er machte Mut zu einem anderen Denken, Mut zu einem anderen Leben. Die Zukunft ist offen, lautete sein Credo – alles ist gestaltbar.

Netzwerke der Zukunft
Ihm gelang es in Vorträgen und Gesprächen, mit seiner bilderreichen Sprache diese abstrakten, von der neuen Physik gespeisten Einsichten verständlich darzulegen und deren Konsequenzen für den politischen und persönlichen Alltag aufzuzeigen. Für ihn war die Zeit reif für einen gesellschaftlichen Wandel. Er selbst wollte aktiv diesen Wandel vorantreiben und gründete 1987 sein ‚Global Challenges Network‘ (GCN e.V.), damals ein fast unverständlicher Namen für eine Initiative. Das Internet steckte noch in den Kinderschuhen und die globalen Herausforderungen waren im Kalten Krieg eingefroren.
Doch Hans-Peter Dürr war Weltenbürger und ein genauer Beobachter. „Es ist ein zunehmender Prozess der Vernetzung von Initiativen und der Kooperation zwischen ihnen zu beobachten. Was entsteht, ist ein lebendiges Netzwerk. Wichtig wird sein sein, ob es uns gelingt, eine „kritische Masse“ zu werden, um wirklich einen Prozess in Gang zu setzen und wir nicht einzelne Rufer in der Wüste bleiben. Diese Lernprozesse sind langsam, aber wir dürfen nicht die Geduld verlieren“.
Deswegen gründete er GCN. Die digitale Vernetzung nahm an Fahrt auf. Aus seiner Vision eines globalen Netzwerkes, das sich den vielen aktuellen Herausforderungen stellt, ist heute die Internetplattform WorkNet:future entstanden – eine stetig wachsende und anschauliche Enzyklopädie von zukunftsfähigen Initiativen und deren Projekten.
Hans-Peter Dürr hat in seinen letzten Lebensjahren diese Verwirklichung seiner Vision begeistert begleitet. Weil er immer unerschütterlich daran festgehalten hat, dass es außerhalb der von Menschen behaupteten Macht und konstruierten Ordnung auf unserem Globus noch etwas anderes gibt: eine realisierbare Vision einer solidarischen, achtsamen Gesellschaft. Lokale und weltumspannende Netzwerke bilden deshalb ein spürbares Gegengewicht zu globalen Irrungen und bereiten den nachhaltigen Umbau unserer Zivilisation vor. Seine Organisation GCN wird weiter an der Sichtbarmachung des globalen Engagements arbeiten.

Ein Pionier der Zukunft ist gegangen. Die Spuren, die er gelegt hat, werden bleiben. „Wenn ich sterbe“, so sagte er kurz vor seinem Tod, „habe ich kein Bewusstsein mehr, aber das, was ich gedacht habe, ist im Hintergrund aufgehoben. Es hat sich mit dem Weltgeist vermengt, hat das Gesamte als Information beeinflusst und steckt darin.“

München, den 19. Mai 2014

Frauke Liesenborghs, Geschäftsführung GCN e.V
Dr. Geseko von Lüpke, Vorstand GCN e.V. / Publizist / Journalist
Dr. Manuel Schneider, Geschäftsführung oekom e.V. und Selbach-Umwelt-Stiftung
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